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Wagner

Die Musik bleibt, die Ideologie ist “Schnee von gestern”: ein Gespräch über Wagner mit Dr. Frank Piontek

von Michael Christensen

Für Publizist Frank Piontek ist die Musik das entscheidende Element in der Oper, das die oft seltsamen Themen und die Ideologie Wagners überstrahlt und die Stücke nachhaltig beeindruckend macht.

Das Interview mit Publizist Frank Piontek findet in seiner Wohnung in Bayreuth statt. Die Wände sind mit Büchern bedeckt. Es ist als würde die Decke des Wohnzimmers getragen werden von Wagner-Literatur.

In der Küche sitzen wir am Tisch zusammen. Hier sind die Wände frei von Büchern; das Geschirr muss ja auch irgendwo stehen. Regelmäßig steht Piontek aber auf, um aus der Wohnzimmerbibliothek dies und das zu holen. Meine Liste an Literatur, die ich unbedingt lesen soll, wächst schnell.

Piontek war schon früh Wagner-Freund

Seit 1988 wohne er in Bayreuth, doch “die klassische Musik begleitet mich, seitdem ich denken kann”, erinnert sich Piontek. “Die Oper war zuerst da, vielleicht habe ich das von meinem Opa geerbt. Meine Mutter hat das auch gefördert. Sie hat ein Abo in der Deutschen Oper Berlin gehabt. Ich war schon früh großer Wagner-Freund.”

Wagners Stücke sind für Piontek unvergleichlich

“Ab ‘Rienzi’ ist jedes Stück von Wagner einzigartig und unverwechselbar”, sagt Piontek. In Vorbereitung auf seine Vorträge zu den hiesigen Aufführungen im Festspielhaus merke er immer wieder, dass er kein Lieblingsstück von Wagner habe.

“Ich war in Siegfried, und Siegfried wurde zu meinem Lieblingsstück. Dann ging ich in die Götterdämmerung, und sie ist ein unglaubliches Stück — dann in die Walküre und sie ist so gut gemacht, das ist unfassbar.”

An jedem einzelnen Stück gebe es etwas zu bewundern. “Sie können gar nicht gleich gesetzt werden”, so Piontek. Das könnte Sie auch Interessieren: Publizist Piontek: Dieses Jahr sind die Festspiele “geil”

Die Musik ist stark, die Ideologie “Schnee von gestern”

Die Stücke seien tief berührend, “auch wenn die Themen seltsam sind”, fügt Piontek hinzu. “Wagners Themen sind alle seltsam, aber die Musik hat eine Stärke, die den Menschen im Innersten packt”.

Mit „seltsam“ meint Piontek Wagners Ideologie, die in 5.000-seitigen Schriften hinter seinen Opern stehe. Auch zu diesem Thema gibt es einen neunzig-minütigen Vortrag von Dr. Piontek. Sein Fazit: “Wagners Frauenbild, Politikbild, und Kunstbild sind meines Erachtens Schnee von gestern”.

“Wagner hatte ein schwarz-weißes Menschenbild”, so Piontek weiter. “Bei ihm gibt es gut und böse und sonst nichts, und das ist nicht realistisch. Die Menschen sind differenzierter als Wagner sie wahrhaben wollte.”

Das Potenzial der Figuren ist groß

Wenngleich Wagner die Figuren etwas eindimensional anlegte, sieht Piontek großes Potenzial für neue Inszenierungen: „Ein guter Regisseur und ein guter Sänger können aus diesen Figuren so viel herausholen, dass sie mich als Mensch ansprechen. Ein Regisseur kann eine Figur wie Wotan oder Alberich so differenziert darstellen, dass ich sie verstehe und sogar Mitleid mit ihr habe”, erklärt Piontek.

Die Musik ist entscheidend

Trotz der zugrunde liegenden Ideologie und der seltsamen Themen, rette die Musik diese Stücke und die dramatische Anlage sei gut gemacht, sagt Piontek.

Die Musik sei entscheidend für eine gute Oper: “Du kannst die besten Themen in der Oper verarbeiten, aber wenn die Musik nicht gut ist, dann verschwindet die Oper auch wieder.”

Richard Wagner und der Antisemitismus

Richard Wagners Schriften, insbesondere “Das Judenthum in der Musik”, stehen im Fokus von Frank Pionteks Buch “Richard Wagners ‘Das Judenthum in der Musik’: Text, Kommentar und Wirkungsgeschichte”. Diese Edition biete eine detaillierte Analyse und ein umfassendes Nachwort zur Deutungsgeschichte des Wagnerschen Antisemitismus.

Ziel sei es, Lesern einen tiefen Einblick in den kulturellen Kontext und die Intentionen dieses kulturhistorisch bedeutenden Textes zu geben.

Verbindung zwischen Wagners Kunst und Ideologie

Dr. Frank Piontek erläutert, dass Wagners Antisemitismus untrennbar mit seinen Kunstwerken verbunden ist. “Wissenschaftlich gehören die Stücke und Wagners Antisemitismus zusammen”, erklärt er.

Obwohl es nicht strikt beweisbar ist, schwingt für Piontek Antisemitismus in der Konzeption von einigen Figuren in ‘Der Ring’ mit. Dazu gehören Alberich und Mime.

Mitleid und Ideologie: Wagners Zwiespalt

So schwarz-weiß Wagner seine Figuren auch angelegt hat: Er selbst hatte wohl ein komplexes Verhältnis zu ihnen. Wagner habe als Künstler Mitleid mit Figuren wie Alberich und Mime zeigen können, so Piontek. Das steht im Gegensatz zu Wagners ideologischen Überzeugungen, die schroffer und weniger empathisch waren.

“Kein Antisemit hat Mitleid mit einem Juden”, so Piontek. Dennoch sei es möglich, dass Wagner mit seinen Figuren Mitleid empfunden habe. Er war eben auch einfach ein Mensch; mit all der Komplexität, die dazugehört.

Die Interpretation macht’s

Was fängt man nun mit diesen Erkenntnissen an? Frank Piontek sieht zwei Möglichkeiten: Den Antisemitismus in den Stücken reduzieren, damit die Figuren sympathischer werden,  oder ihn herausstellen und kommentieren.

Zur Illustration der zweiten Möglichkeit verweist Piontek auf Barrie Koskys Inszenierung von ‘Die Meistersinger’. Sie behandle das Thema differenziert. Zuschauer würden sich Wagners Antisemitismus bewusst, aber seine Sichtweise werde historisch eingeordnet.

Kosky zeige klar auf, dass Wagners Figur “Beckmesser” als antisemitische Karikatur angelegt war, interpretiere dies jedoch im Kontext einer historischen Analyse Wagners und des Holocausts, so Piontek. “Wenn ich das sehe, bin ich erschüttert, aber ich denke nicht an den bösen, antisemitischen Wagner”, sagt Piontek.

“Schwarz-weiß” ist zu einfach gedacht

Für Frank Piontek ist Wagners Antisemitismus untrennbar mit seiner Kunst verbunden und muss als vorhanden akzeptiert werden. “Sonst dürfte man Wagner gar nicht aufführen”, findet er. Diese Sichtweise erfordere allerdings ein tiefes Verständnis der Verbindung zwischen Wagners Kunst und seiner problematischen Ideologie.

Aus einer solchen Auseinandersetzung ergibt sich, dass eine einfache Antwort auf die Frage, ob Wagner ein Antisemit ist, nicht mit Ja oder Nein zu beantworten sei. Stattdessen müssen die Komplexität von Wagners Kunst, seine Ideologie und der historische Kontext sorgfältig dargestellt und diskutiert werden.

Ein Schwarz-Weiß-Bild von Wagner ist also ebenso “viel zu einfach gedacht”.